Warum eine multimodale Schmerztherapie sich nicht am Schmerzwert orientiert

 

In vielen Bereichen finden sich Vorgaben wie „Ab einem Schmerzwert von über 4 nach der numerischen Ratingskala, kurz NRS kann eine Medikament verabreicht werden.“ Sogar diese Vorschreibung ist häufig falsch, da oft „VAS“, also visuelle Analogskala statt NRS steht, nur die VAS hat keine Ziffern, einen VAS von 4 gibt es nicht. Das nur so nebenbei.

 

Lange Zeit wurde diese Vorgehensweise empfohlen, ohne zu berücksichtigen, dass diese Vorgabe ein professionelles Assessment der DGKP impliziert. Das wurde vorausgesetzt, jedoch war das vielen DGKP nicht bewusst.

 

Was folgte, war die Erkenntnis, dass ein Schmerzmedikament nicht nach einem Schmerzwert, der mittels numerischer Ratingskala erhoben wird, verabreicht werden kann. Diese folgerichtige Erkenntnis führte jedoch mangels Wissen zu falschen Annahmen. So wurde den Patient:innen der Schmerzwert, den sie angaben, abgesprochen. Es folgten Aussagen wie: „Der Patient sieht aber nicht so aus wie ein Schmerzwert von 8“, „die Patientin geht rauchen, da kann es ja nicht so weh tun“, „wenn ich einen Schmerzwert von 10 habe, denn lieg ich nicht so ruhig im Bett“, „Der Patient hat die ganze Nacht geschlafen, da kann er ja keine Schmerzen gehabt haben“.

 

Diese Aussagen können dazu führen, dass ein niedrigerer Schmerzwert dokumentiert wird, als die Betroffenen angegeben haben, damit kein Schmerzmittel verabreicht werden muss. Denn es wird zwar richtig erkannt, dass die Patient:innen eventuell kein Schmerzmittel benötigen, aber falsch begründet. Nicht, weil die Patient:innen die Schmerzerfassung nicht verstanden haben, sondern weil die professionelle Pflege das Schmerzassessment nicht verstanden hat, wird der Schmerzwert falsch interpretiert.

 

Es gilt: Schmerz ist das, was die Patient:innen angeben. Es gilt weiterhin: es braucht nicht immer ein Schmerzmittel, um einen Schmerzwert von 8 nach der NRS zu behandeln. Und es muss kein sichtbares körperliches Zeichen vorliegen, denn Sorgen oder Ängste, die die Schmerzwahrnehmung verstärken können, äußern sich nicht in Schonhaltung oder verzerrtes Gesicht. Oft ist es ein professionelles Gespräch, das z.B. weitere Faktoren wie Angst, Stress erhebt und diese mit komplementären Pflegeinterventionen lindert. Das macht die multimodale Schmerztherapie aus. Multimodal bedeutet eben nicht nur ein Schmerzmedikament, sondern sämtliche schmerzlindernde Maßnahmen, die die professionelle Pflege kennt und anwenden sollte.

 

Und da liegt das eigentliche Problem.

 

Das Pflegeassessment ist ausschließlich Aufgabe der DGKP und beinhaltet neben dem Gespräch auch die körperliche Untersuchung, die Pflegediagnostik und das Anbieten von komplementären Maßnahmen. Das hängt zwingend an der Erfassung des Schmerzwertes mittels NRS. Ein Schmerzwert kann daher nicht isoliert abgefragt werden, wie ein Blutdruck oder eine Körpertemperatur gemessen wird.

 

Um das zu verstehen, muss man wissen, was Schmerz ist. Schmerz ist die emotionale und kognitive Bewertung einer Nozizeption. Was ist Nozizeption? Nozizeption meint das, was man empfindet, also eine ziehende oder stechende Empfindung. Das macht aber noch nicht den Schmerz. Erst, wenn diese ziehende oder stechende Empfindung als Bedrohung angesehen wird, dann wird es zum Schmerz. So kann eine Akupunktur, die durchaus eine stechende Empfindung machen kann, als angenehm und nicht als Schmerz empfunden werden. Das zu verstehen, dafür braucht es sehr viel vertiefendes Fachwissen, das über die Grundausbildung zur DGKP hinausgeht. Es braucht also ein höherwertiges Wissen. Nur dann versteht man, dass der NRS-Wert die Gesamtheit aller Faktoren erfasst und nicht nur die Empfindung (Schmerzqualität).

 

Wenn es jetzt z.B. in einem Körperteil zieht und die Patient:innen machen sich Sorgen, dass das eine mögliche Komplikation oder Verschlechterung ist, dann ist der Schmerzwert höher. Wenn es zieht und die Betroffenen wissen, dass diese Empfindung dazugehört bei der Genesung und in ein paar Tagen weniger wird, dann ist der Schmerzwert niedriger. Das hat nichts mit sichtbaren Körperzeichen zu tun. Diese sind sehr unsicher und hängen von der jeweiligen kulturellen Bedeutung des Schmerzes ab. Es muss ein Mensch mit einem Schmerzwert von 10 nach der NRS sich nicht zwangsläufig krümmen und er muss auch nicht schreien. Das ist eine subjektive Vorannahme, die das Wissen um das Schmerzassessment beeinflusst.

 

Es braucht also ein einfühlsames Vorgehen bei der Schmerzerfassung, nur einen Wert zu erheben, reicht nicht.

 

Neben dem hohen Fachwissen muss für die DGKP auch klar sein, was ein Pflegeassessment und was Pflegeassessmentinstrumente sind. Schmerzlineale sind Assessment- bzw. Diagnostikinstrumente und keine Messinstrumente! Jetzt wird vielleicht die eine oder andere DGKP sagen, na gut, aber ein Blutdruckmessgerät diagnostiziert jetzt auch einen hohen Blutdruck. Nein. Es misst einen Wert. Ob dieser Wert zu hoch oder zu niedrig ist, dass entscheiden diagnostisch tätige Berufe, nicht das Messgerät.

 

Bei einer Schmerzeinschätzung mittels einem Assessmentinstrument muss in Zusammenschau aller erhobenen Faktoren gemeinsam mit den Betroffenen entschieden werden, wie die weitere Vorgehensweise ist. Das kann eine komplementäre Pflegetherapie sein, das kann auch die zusätzliche Gabe eines Schmerzmittels sein, das kann auch ein professionelles Gespräch sein. Dies zu entscheiden, obliegt alleine der DGKP. Deshalb ist eine Schmerzerfassung durch PFA, PA nicht sinnvoll, denn sie können nichts entscheiden. Ein/e Patient:in kann sich z.B. für eine temperierte Ölkompresse entscheiden, die die DGKP angeboten hat. Und das kann nur die DGKP anbieten, denn ihr alleine obliegt die Entscheidung, welche komplementäre Maßnahme passend ist. Man muss dann die weitere Vorgehensweise erklären und auch über das Produkt, das für die Ölkompresse verwendet wird, beraten. Das ist ausschließlich Aufgabe der DGKP.

 

Was können die Assistenzkräfte wie PFA/PA machen? Sie können mögliche Schmerzzeichen beobachten (schmerzverzerrtes Gesicht, Schonhaltung, Abwehrhaltung bei Pflegehandlungen) und können die Betroffenen niederschwellig fragen, ob sie Schmerzen haben. Wird die Frage bejaht, ist eine DGKP hinzuzuziehen. Haben Patient:innen kognitive Beeinträchtigungen und die PFA/PA haben das Gefühl, dass Schmerzen vorhanden sind, die Frage danach aber verneint wird, so ist auch die DGKP hinzuzuziehen, die dann ein weiterführendes Assessment bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen einleitet.

 

In jedem Fall kommt die Komplementäre Pflege immer zum Einsatz. Und da ist das nächste Problem. Das Wissen um die Komplementäre Pflege ist im klinischen Pflegealltag dürftig. Und das Wissen, welchen Stellenwert das Pflegeassessment und die komplementäre Pflege hat, ebenso. Das führt zur absoluten Reduktion des Schmerzmanagements. Es wird ein Schmerzwert erfasst, dann wird vielleicht oder auch nicht ein Schmerzmittel verabreicht und die Evaluierung wird vielleicht zeitnahe durchgeführt.

 

Der Grund dieser reduzierten Vorgehensweise liegt am mangelnden Wissen um das Thema Schmerz und vor allem am mangelnden Bewusstsein um das pflegerische Assessment und die pflegerischen Kernkompetenzen. Dadurch werden diese DGKP-Kompetenzen an Assistenzkräfte übertragen und deshalb funktioniert das gesamte Schmerzmanagement nicht. Solange sich die DGKP ihrer Rolle im Schmerzmanagement nicht bewusst ist, solange werden die Patient:innen unterbehandelt bleiben.

 

Berta Schrems hat es auf den Punkt gebracht:

 „Die Erfassung von Schmerz in seiner Mehrdimensionalität im Prozess des Diagnostizierens mag nicht immer einfach sein. Die Beschränkung auf die Verabreichung einer ärztlich angeordneten Schmerzmedikation aber, wie dies vielfach in der Praxis anzutreffen ist, kann mit dem heutigen Wissen als grobe Vernachlässigung der Berufspflicht gedeutet werden.“ (Schrems, 2021, S. 234)

 

Diese und weitere Literatur zeigt ganz klar auf, dass es für das Schmerzassessment ein fundiertes Wissen und eine höhere Qualifikation benötigt. Auch der Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege“ zeigt klar die notwendigen Aufgaben auf, für die es ein hohes Wissen braucht.

Nur durch ein höherwertiges Wissen und die Umsetzung der pflegerischen Kernkompetenzen der DGKP kann ein professionelles Schmerzmanagement gelingen. Mit Assistenzkräften alleine ist kein professionelles Schmerzmanagement zu machen. Sie können jedoch die DGKP mit ihren Beobachtungen unterstützen.

 

Deshalb ist die richtige Vorschreibung:

"Das Pflegeassessment entscheidet über die multimodale Schmerztherapie. Bei Vorliegen von Schmerzen wird nach dem Pflegeassessment durch die DGKP die komplementäre Pflegetherapie durchgeführt und das Schmerzmittel XY kann verabreicht werden."

 

Das setzt jedoch voraus, dass das Verständnis von Pflegeassessment und dessen Bedeutung klar ist. Das Schmerzmanagement steht und fällt mit den professionellen Pflegeassessment.

 

 

S. Geyrhofer, BA, DGKP

 

 

Literaturverzeichnis

 

Carr, E., & Mann, E. (2014). Schmerz und Schmerzmanagement. Praxishandbuch für Pflegeberufe. Bern: Verlag Hans Huber.

 

DNQP. (2020). Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege. Osnabrück: Hochschule Osnabrück, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

 

Geyrhofer, S. (2022). Pflegetherapie im Schmerzmanagement. Wien: Facultas.

 

Nilges, P. (2021a). Chronischer Schmerz ist weder eine psychische noch eine funktionelle Störung, sondern in der ICD-11 (endlich) eine eigenständige Diagnose. Nervenarzt, S. 716-717.

 

Nilges, P. (2021b). „Koryphäen“ und „Koryphäenkiller“: Diagnosen als Selbstschutz bei professioneller Verunsicherung. Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift, S. 32-39.

 

Osterbrink, J. (2013). Was J.J. Bonica gefreut hätte. Der Schmerz 27, S. 549-552.

 

Schrems, B. (2021). Der Prozess des Diagnostizierens in der Pflege. Wien: Facultas.